Ein Unfallopfer
Dieser Beitrag fällt mir schwer, denn es ist der Bericht einer Niederlage.
Es geschah in Slowenien im Sommer 2019, irgendwo zwischen dem Triglav-Nationalpark und der Gegend um Bled. Stundenlang hatte ich mich schon unzählige Serpentinen in dieser schönen Landschaft hinauf und hinunter geschraubt und war allmählich erschöpft und im Begriff, eine Pause zu machen. Nach einer weiteren Kehre sah ich eine kleine Parkbucht auf der rechten Seite und nahm gleichzeitig links im Augenwinkel etwas Zappelndes wahr. Welch ein Glück, dass ich hier anhalten konnte!
Ich stieg aus und erkannte in dem zappelnden Wesen ein Reh, das verzweifelt versuchte, sich aufzurichten. Als ich ihm helfen wollte, schrie es laut vor Schmerzen. Wer auch immer das arme Tier angefahren hatte, war längst über alle Berge, wahrscheinlich mit einer dicken Beule im Auto.
Es war nicht möglich, das Tier zu beruhigen, und anfassen ließ es sich auch nicht. Schließlich sind Rehe Fluchttiere und meine Hilfeversuche verstärkten nur seine Panik. Im Auto tobte Mowgli, doch ihn hinauszulassen wäre dumm und gefährlich gewesen. Auch die Stelle, an der das Reh lag, war gefährlich, denn es gab keinen Seitenstreifen und die Berghang ragte direkt am Fahrbahnrand in die Höhe.
Was sollte ich tun? Das Tier irgendwie ins Auto transportieren und zu einem Tierarzt fahren? Es war Sonntag… Und wie sollte das gehen, mit einem Hund im Auto? Die Polizei rufen? Ich hatte den Unfall nicht verursacht, aber würden sie mir glauben? Mein Auto hatte nicht einmal einen Kratzer, also brauchte ich mir darum eigentlich keine Sorgen zu machen. Zunächst aber versuchte ich, eines der vorbeirasenden Autos anzuhalten, doch niemand reagierte.
Ein hilfsbereiter Mensch
Ich stieg in mein Auto, das inzwischen von Mowglis Angstgeruch erfüllt war, und versuchte, die Nummer der Polizei aus einem Infobuch herauszusuchen. Da kam mir ein Traktor mit einem Holzanhänger entgegen.
So schnell ich konnte, lief ich wieder auf die Straße und schrie: „Stop! Stop!“ und rannte mit den Armen wedelnd hinter dem Traktor her. Zu meiner großen Erleichterung hielt er an und ein junger Slowene, der wie ein echter Naturbursche aussah, sprang herunter, sah das Reh und verstand sofort, worum es ging.
Zum Glück sprach er etwas Englisch. Ich erklärte ihm, wie ich das Reh gefunden hatte, und bat ihn, mir zu helfen. Pure Dankbarkeit stieg in mir auf, als er seinen Zug auf der Straße wendete und sich damit hinter mein Auto stellte. Er nahm sein Handy und telefonierte – aber nicht mit der Polizei, sondern mit einem Jäger.
Bis dieser eintraf, war es jetzt wichtig, das Tier auf die andere, sichere Straßenseite zu tragen. Doch wie? Alle Versuche, es anzufassen, schlugen fehl und brachten mir einige Kratzer ein. Da fiel mir ein, dass ich noch zwei Spanngurte im Auto hatte. Mit diesen konnten wir das arme Reh fixieren und dann hinübertragen. Wir legten es zwischen Auto und Traktor ins Gras, so schattig wie möglich, und warteten.
„Warum ein Jäger?“ wollte ich wissen. Der freundliche Slowene erklärte mir, dass solche Unfälle hier öfter passierten und dass dieses Reh ein verletztes Rückgrat und somit keine Überlebenschance hatte.
Warten…
Wir warteten lange. Die Sonne brannte heiß und ich stand halb im Schatten, halb in der Sonne, das Ende des Spanngurtes in der Hand, und konnte mich nicht wegbewegen, weil ich auf das Reh aufpassen musste. Zwischendurch nämlich versuchte es sich immer wieder mit heftigen Bewegungen aufzurichten und rutschte dabei gefährlich nahe an den Abgrund neben der Parkbucht. Wäre es hinuntergefallen, hätte es qualvoll verenden müssen. Also zog ich es immer wieder an dem Gurt, der noch um seinen Bauch geschlungen war, zurück an die sichere Stelle im schattigen Gras. Es tat mir so leid, dass ich dabei ziemlich beherzt vorgehen musste.
Ich betrachtete jetzt das schöne Tier genauer. Es war ein junger Rehbock mit großen, sanften Augen, einer schwarzen, glänzenden Nase und langen, sehr schlanken Beinen. Einmal berührte ich seine Hufe und war überrascht, wie warm sie sich anfühlten. Das Fell war kurz und man sah einige Insektenstiche auf seiner Haut. Sein Geweih war noch kaum entwickelt. Möglicherweise hatte seine Unerfahrenheit ihn leichtfertig auf die Straße springen lassen.
Jetzt hielt ein Auto an. Eine junge Frau stieg aus und sah die Szene. Sofort holte sie ein Flasche Wasser aus dem Auto und goss eine kleine Pfütze vor das Reh. Das Tier trank begierig daraus und ich schämte mich ein bißchen, weil ich nicht selbst auf diese so naheliegende Idee gekommen war. Das Wasser versickerte zu schnell, also bot ich meine hohle Hand als Trinknapf an. Das funktionierte ganz gut. Irgendwann war der Durst des Rehbocks gestillt und die junge Frau stieg wieder zu ihren Freunden ins Auto und fuhr mit ihnen davon.
Weiter warten. Noch einmal telefonieren. Warten. Der Slowene wurde ungeduldig, blieb aber, was ich ihm hoch anrechne. Viel miteinander reden konnten wir nicht, dazu waren die Sprachkenntnisse zu begrenzt. Das Wesentliche aber konnte dennoch übermittelt werden.
Hier standen wir bei einem scheuen Geschöpf, dessen Welt mit unserem modernen Leben nicht kompatibel ist. Aus den Tiefen des Waldes hatte es sich zu nah an die Menschen gewagt. Nun wird es nie wieder seine lebensfrohen Sprünge machen können, denn seine Hinterläufe waren gelähmt. Selbst, wenn es hier eine Tierklinik gäbe und das Tier erfolgreich operiert werden könnte – würde es die lange Rehabilitation überstehen? Wäre dies wirklich das Beste?
Die letzten Minuten
Endlich, nach gefühlten zwei Stunden, kam der Jäger in Begleitung einer Frau. Der hilfsbereite Slowene, der mit mir ausgeharrt hatte, verabschiedete sich nun und war ganz offensichtlich froh, die Verantwortung abgeben zu können. Der Jäger versicherte mir jetzt freundlich, dass solche Unfälle öfter passierten und die Jäger dann wüssten, was sie zu tun haben. Er fotografierte das Tier aus verschiedenen Blickwinkeln. Ich hatte es als respektlos dem armen Unfallopfer gegenüber empfunden, eigene Fotos zu machen. Der Jäger aber war sachlich in seiner Dokumentation. Seine Begleiterin betrachtete den Rehbock voller Mitleid und fragte mehrmals, ob er wirklich nicht gerettet werden könne. Ich unterstützte sie darin und fragte nach einer Tierklinik. Der Jäger gab mir zu verstehen, wie weit hergeholt dieser Plan war. Schließlich waren wir hier nicht in einer Großstadt, sondern mitten im slowenischen Bergland.
Er ging zum Auto, um sein Gewehr zu holen, bedankte sich für meine Hilfe und verabschiedete sich von mir, was soviel hieß wie: „Bitte fahren Sie jetzt weiter.“ Ich wäre bis zum Schluss geblieben, war dann aber doch erleichtert, den Todesschuss nicht miterleben zu müssen.
Als ich mich von dem jungen Rehbock verabschiedete, hob dieser den Kopf und sah den Jäger offen an. Es war, als wolle er ihm signalisieren, dass er jetzt bereit sei.
Ich stieg in mein Auto und setzte meine Fahrt fort. Nicht alles kann man reparieren und manche Ereignisse haben endgültige Folgen.