Reisen

Rügen – Licht und Schatten

Während es allmählich Herbst wird, die Tage kürzer und kühler werden und das Leben sich bald wieder ganz nach innen verlagert, wird es Zeit, sich an die Sommerfreuden zurück zu erinnern, auch wenn sie in diesem Jahr nicht ganz so freudig ausfielen, sich dafür aber durchaus als sinntragend erwiesen.

In diesem Sommer ist alles etwas anders gewesen und die Monate zuvor hatten ihre Spuren hinterlassen: vom vielen Sitzen im Homeoffice verspannt und träge geworden, war mein Bedürfnis, eine größere Reise anzutreten, nicht besonders groß, und ich hatte mich schon fast damit arrangiert, zuhause zu bleiben und mit Mowgli kleinere Ausflüge zu machen.

Nun ist aber Oberhausen nicht gerade ein Naherholungsgebiet und das Wetter war auch nicht gerade einladend. So kam es, dass nach etlichen Regentagen dann doch mein Nomaden-Gen wieder durchschlug. Mowgli, der die Tage vorwiegend mit Schlafen verbrachte, hob kurz seinen Kopf, machte „Pfff“, was das Gleiche bedeutet wie „Laaangweilig!“ und rollte sich wieder zusammen. „Hey, Mowgli!“ Hund und Mensch sahen einander in die Augen: „Lust auf ein kleines Abenteuer?“ Mowglis Augen begannen zu strahlen. „Wald oder Meer?“ Am besten beides. Rügen. Der Jasmunder Nationalpark. Der kleine Campingplatz „Krüger Naturcamping“ am Waldrand hatte noch ein Plätzchen für uns frei:

Zwei Tage brauchte ich für die Vorbereitung einschließlich Autocheck und Einkauf und Wohnung aufräumen. Während ich alle Sachen zusammentrug, folgte mir Mowgli treppauf und treppab, vor Aufregung schwanzwedelnd und bellend: „Jaa, es geht wieder los!“

Ein neues Abenteuer

Und dann begann unser neues Abenteuer, schon auf der Hinfahrt. Während ich gut gelaunt der Musik von Simon Khorolskiy zuhörte, einem jungen russischen Sänger, den ich erst kürzlich entdeckt habe, verabschiedete sich plötzlich mein Tomtom-Navi. Der Stecker war kaputt und nahm keinen Strom mehr an. Es half nichts, die Sicherung im Stecker auszutauschen, der war einfach hinüber. Mein Handy war auch nicht kooperativ. Schon vor der Fahrt hatte es sich entschlossen, nur noch auf 2G zu laufen und auch sonst herumzuzicken. Irgendeine Karte herunterzuladen war nicht möglich. Ich stellte mich schon darauf ein, ganz old-school-mäßig nach Straßenkarte zu fahren, was ja für Leute aus meiner Generation früher mal ganz normal war. Da fiel mir mein mobiler Router ein. Also über WLAN das Handy mit dem Router verbinden, die fehlenden Karten herunterladen – und so klappte es dann. Aber diese Aktion bedeutete einen herben Zeitverlust und so kam ich erst abends an, schon ziemlich erschöpft.

Mit dem Zeltaufbau ging das Abenteuer weiter, denn eine der beiden großen Fiberglasstangen brach. Sollte euch das einmal passieren: wer Panzertape hat, kann viele Probleme lösen. 🙂 Ich habe die gebrochene Stange mit Panzertape umwickelt und war erstaunt, dass sie wieder voll einsatzfähig war. Ein Urlaub ohne Vorzelt wäre bestimmt doof geworden… Außerdem wollte ich unbedingt meine neue Schleusenanbindung ausprobieren, ein Magnetband mit Kederschiene. Als ich mit allem fertig war, funkelten schon die Sterne. Das war abenteuerlich genug für einen Tag und ich hoffte, dass die nächsten Tage ruhiger würden.

Die Stille des Waldes

Direkt hinter dem Campingplatz liegt der wunderbare Buchenwald, der für Rügen so typisch ist. Wir verbrachten die meisten unserer Tage damit, ihn in ausgedehnten Wanderungen zu durchstreifen. Vorbei am Großsteingrab „Pfenniggrab“ und der Herthaburg mit dem Herthasee führt ein Wanderweg zum Königsstuhl, von dort aus kann man auf dem Höhenwanderweg an der Steilküste entlangwandern und die spektakuläre Aussicht auf die Ostsee genießen. Geht man in Richtung Sassnitz, gelangt man am Kollicker Ort zu einem ziemlich anstrengenden Abgang zum Strand. Das letzte Stück besteht aus einer sehr steilen Stahltreppe, die alles andere als hundetauglich ist. Mowgli jedoch, furchtlos und unerschrocken, meisterte sie zum großen Erstaunen aller Zuschauer.

Natürlich sind an so berühmten Orten wie dem Königsstuhl viele Leute unterwegs. Viel schöner aber finde ich, auf stillen Wegen zu wandern, in tiefer Zufriedenheit, nur sehen, hören, riechen, wahrnehmen, was mir begegnet. Dem Wind zuhören, der offenbar ständig die Richtung wechselt. Auf Mowgli achten und seinem Blick folgen. Tief atmen.

Sich lautlos durch den Wald bewegen – ich bemerke, wie hart ich beim Gehen aufstampfe. Als es mir gelingt, den Schritt zu dämpfen, nehme ich mehr und mehr Vogelstimmen wahr. Eine Krähe kündigt hoch auf dem Baum unser Kommen an, das Signal wird etwas weiter entfernt von einer andern Krähe bestätigt. Weder die heilige Stille des Waldes noch die Anwesenheit der Tiere nimmt man wahr, wenn man laut lärmend durch den Wald stapft. Auf den großen Wegen höre ich unfreiwillig die belanglosesten Gespräche und es erscheint mir unverständlich, ja respektlos, auf diese Weise das Waldleben zu stören. In der Tiefe des Waldes kündigt sich der Menschenlärm schon von weitem an. Weniger Lautheit, weniger Grobheit wünsche ich mir…

Am Abend sitzen wir lange an einem kleinen Waldsee und hören dem Rascheln des Schilfrohrs zu. Kleine Vögel kommen nahe heran, die Luft ist voll von summenden und schwirrenden Insekten. Das schon reife Korn von den Feldern hinter uns duftet. Überall sind Wildblumen. Auf dem Weg „nach Hause“ dringt der Duft von Waldmeister in meine Nase.

Versunkene Welten
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

So sagt es Johann Wolfgang von Goethe im „Faust“.

Nicht nur die Großsteingräber in unmittelbarer Nähe des Campingplatzes oder der in slawischer Zeit gebaute Herthawall zeugen von versunkenen Kulturen. Rügen ist übersät mit Zeugnissen aus alter Zeit.

Da waren zum Beispiel die Slawen, auch Ranen oder Rujanen genannt, die Rügen (Rujan) ab dem 7. Jahrhundert friedlich besiedelten bis sie im 12. Jahrhundert von den Dänen erobert und christianisiert wurden. Viele Ortsnamen deuten noch auf die ehemals slawische Besiedlung hin. Am Kap Arkona finden wir die Anlage der Jaromarsburg, die wohl das religiöse Zentrum darstellte. (Leider ist das Gelände zur Zeit abgesperrt.) Wir lesen, dass die Ranen eine polytheistische Religion hatten. Gräbt man aber etwas tiefer, findet man heraus, dass sie ein wedisches Gedankengut pflegten. Wenn man dann noch auf den Hinweis stößt, dass die slawischen Weden mit den indischen Veden verwandt sind, beginnt es, richtig spannend zu werden.

Die Geschichtsschreibung teilt uns die Jahreszahlen und Umstände bedeutender Kämpfe und Schlachten, die Namen der damaligen Herrscher und die Orte archäologischer Funde mit. Was wissen wir aber wirklich von den alten Zeiten und den Menschen, die zu jenen Zeiten lebten? Sind wir nicht oft geneigt, zu glauben, alte Kulturen wären irgendwie primitiver gewesen? Und wenn sie in Wirklichkeit zivilisierter in ihren Sitten und Gebräuchen waren als wir es heute sind? Wer weiß das schon so genau…

Hundefreuden

Mein Freund Mowgli denkt über diese Dinge nicht nach. Er nimmt die Tage, wie sie sich ihm bieten. Findet er ein Stöckchen, legt er sich mitten auf den Weg und geht erst weiter, wenn er es zerkaut hat. Er liebt es, seine Pfoten ins Wasser zu stellen oder in die Wellen zu beißen. Voller Lebensfreude wälzt er sich im Sand oder im Gras. Jedes kleine Erdloch im Wald will er aufbuddeln und die kleinen Bewohner darin aufstöbern. Manchmal sieht man dann noch ein Mäuschen panisch wegflitzen. Mowgli nimmt sich die Zeit, alles genau zu untersuchen. Man lernt sehen und hören, wenn man mit ihm unterwegs ist. Und Geduld – lernt man auch.

Lohme und der Kaffeegarten

Etwa zwei Kilometer vom Campingplatz entfernt liegt der kleine Ort Lohme. Es gibt hier einen Dorfladen, einen Wohnmobil-Stellplatz, einen Segelhafen und ein paar kleine Souvenirläden. Man kann durch den Waldstreifen hinunter gehen zum steinigen Strand, wo man teilweise über glitschige Brocken klettern muss, um ans Wasser zu gelangen. Mowgli wollte natürlich ins Wasser, rutschte offenbar auf den Steinen ab und kam dann seltsamerweise mit seiner Leine im Maul wieder heraus. Er wirkte irgendwie angespannt, wie man hier sehen kann:

Erst am nächsten Tag begriff ich, was passiert war, und warum er plötzlich auf andere Hunde, die ihn kennenlernen wollten, so unwirsch reagierte.

Ich hatte am Ortseingang ein einladendes Schild entdeckt:

Was für eine hübsche Idee! Ich folgte der Einladung und fand mich in einem wunderschönen Garten wieder, wo ich von äußerst freundlichen Menschen mit sehr leckerem Kuchen bewirtet wurde. Auch die anderen Gäste schienen sich dort sehr wohl zu fühlen und alles wäre perfekt gewesen, wenn Mowgli nicht so laut gebellt hätte, sobald sich ein Hund der Gäste näherte. Normalerweise legt er sich still neben oder unter den Tisch und ist die Höflichkeit in Person. Ich hätte sicher noch ein drittes Stück Kuchen verdrückt, aber Mowglis Benehmen war zu peinlich. Die liebenswürdigen Gastgeber reagierten jedoch sehr verständnisvoll.

Nichts geht mehr

Mowglis Unruhe steigerte sich am nächsten Tag noch. Er machte fahrige, ruckartige Bewegungen, wollte sich unter das Auto verkriechen und leckte immer wieder intensiv an der Spitze seiner Rute. Wenn ich nachsehen wollte, wo das Problem lag, knurrte er mich weg. Er schien große Schmerzen zu haben. Zum Glück hatte ich die Schmerztabletten im Gepäck, die mir die italienische Tierärztin im letzten Jahr gegeben hatte. Nach einer Tablette ging es ihm deutlich besser, sodass ich ihm die inzwischen verfilzte Fellmatte an der Rutenspitze herausschneiden und vorsichtig die Wirbel abtasten konnte. Es schien ein Bruch zu sein! Unser erster Weg nach der Heimkehr würde auf jeden Fall zu seiner Tierärztin führen.

Ich selbst war aber auch krank, regelrecht ausgeknockt, und wäre nicht in der Lage gewesen, ihn zu einem hiesigen Tierarzt zu bringen. Also blieb nur, den Tag im Bett zu verbringen, Mowgli soweit nötig mit Schmerztabletten zu füttern und einfach auszuruhen. So litten wir gemeinsam. Es regnete sowieso…

Nach einigen Tagen schien er dann kaum noch Probleme zu haben und war fröhlich und entspannt wie immer. Nur nachsehen durfte ich immer noch nicht. Auch mir ging es bald besser. Am Ende des Tages, nachdem wir stundenlang dem Regen, der auf das Autodach und Zelt trommelte, und den zänkischen Platznachbarn, die mit Streit aufstanden und mit Streit schlafen gingen, zugehört hatten, bewegte ich mich zum Kochtopf, um mir eine Suppe zu kochen, die meine Laune wieder anheben könnte. Aber es war die Musik von Simon Khorolskiy, die die trüben Wolken wegblies. Schon bei den ersten Takten kehrte mein Selbstvertrauen und mein Optimismus zurück. Während ich in meiner Suppe rührte, machte ich einige Tanzschrittchen, sah ja keiner – nur Mowgli sah mich verwundert an und wedelte ein bißchen fragend mit dem Schwanz.

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Frieden

Am nächsten Tag reisten die zänkischen Nachbarn endlich ab und ich merkte mit der nun eingetretenen Stille, wieviel Unruhe sie verbreitet hatten. Da wir aber so angeschlagen waren, machte es auch für uns Sinn, bald den Heimweg anzutreten. So verbrachten wir einen letzten friedlichen Tag bei Regen im Zelt. Die kleine Campingheizung leistete gute Dienste und ich freute mich darüber, dass die Schleusenanbindung dem Regen standhielt. Ich nutzte die Zeit zum Schreiben, Nachdenken und Lesen. Eigentlich störte es mich nicht, dass es auf dieser Reise Probleme gab. Schwierigkeiten sind schließlich dazu da, gemeistert zu werden. Sie fördern unseren Mut, unser Durchhaltevermögen, unser Improvisationstalent, unsere Selbstdisziplin… Ich sehe in meinen Reisen kein Punkteprogramm an Aktivitäten, die abgehakt werden wollen, sondern ein Sammeln von Erfahrungen, die mich bereichern. Die Reaktion auf Hindernisse und das Einlassen auf Wechselhaftigkeiten gehört dazu.

Überhaupt habe ich zunehmend das Gefühl, dass Planungen schwierig geworden sind. Hätten wir im Juli 2019 gedacht, dass die Welt ein Jahr später so durcheinander sein würde? Ich sehe dunkle Wolken am Horizont und frage mich, worauf man sich für die nächsten Monate einzustellen hat. Was auch immer vor uns liegt – es wird Gottvertrauen und Mut brauchen, durch das unbekannte Terrain zu kommen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Simon Khorolskiy zu Wort kommen lassen:

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Bleibt noch zu erwähnen, dass sämtliche Navigation auf der langen Rückfahrt nach Hause endgültig ausfiel und ich froh war, die Route einigermaßen im Kopf zu haben.

Was den Kompass angeht, der uns den Weg zu richtigem Denken und Handeln weist – dieser liegt sowieso in unserem Herzen.

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