Reisen

Lernprogramm Reisen

Es hätte so einfach sein können: zwei Wochen Winterschlaf über Weihnachten und Neujahr, kuschelig auf der Couch herumlümmeln und ein Buch lesen, dabei heißen Kakao trinken…

„Warum tue ich mir das an?“, fragte ich mich wie jedes Mal, wenn ich mich in stundenlangen Reisevorbereitungen verliere, wohl wissend, dass die Nachbereitung der vor mir liegenden Reise hinterher noch einmal die gleiche Zeit und Mühe beanspruchen wird. Aber ich hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, Prag kennenzulernen. Zuvor wollte ich einige ruhige Tage in der sächsischen Natur verbringen und meinem Hund mit ausgedehnten Spaziergängen eine Freude machen. Dabei hatte ich mir eine schneebedeckte Landschaft und ein romantisch verschneites Prag vorgestellt, als ich die Unterkünfte buchte. Doch je näher der Abreisetermin rückte, desto wärmer wurde es, sodass ich schließlich jegliche Erwartungshaltung fallen ließ und stattdessen darüber philosophierte, warum mir das Reisen überhaupt wichtig erscheint. Und darum geht es nun in diesem Beitrag.

Bye bye Routine

Ähnlich wie eine Eisenbahn, die auf immer gleichen Schienen dahinrollt, verrichten wir unsere täglichen Aufgaben und fahren die Stationen unseres Tagesablaufs ab, mal mit mehr, mal mit weniger Energie. Aus diesem Korsett alltäglicher Routine auszubrechen, und sei es auch nur für ein kleines Zeitfenster von wenigen Tagen, schenkt uns schon ein Gefühl von Freiheit.

Und mit der Freiheit kommt die Inspiration. Die Sinne sind offen und wach und das gibt mir die Chance, Neues aufzunehmen wie ein Kind, das etwas zum ersten Mal erlebt. Druck und Zeitdruck spielen keine Rolle mehr und mein jeweiliges Ziel ist der Ort, zu dem es mich gerade hinzieht. Die besten Voraussetzungen also für vertieftes Lernen, jenes Lernen nämlich, das uns sozusagen in der Wechselwirkung von Innen und Außen verändert. Es ist ein Wachstumsprozess, ähnlich dem, zu dem uns die Lektionen des Lebens verhelfen. Eine Miniaturlebensreise sozusagen.

Zumindest mache ich dies geltend für die Art und Weise, in der ich am liebsten reise – auf einer Route mit Teilzielen. Irgendwo an einem schönen Ferienort all-inclusive abzuhängen, liegt mir weniger.

Einige der Lektionen, die eine solche Reise mit sich bringen kann, wären zum Beispiel diese:

Ängste überwinden

Wenn man eine Reise antritt, weiß man nie genau, was einen erwartet. Trotz bester Vorbereitung kann Unerwartetes eintreten. Trotz sorgfältigem Packen hat man vielleicht das eine Teil nicht dabei, das man jetzt gerade gebraucht hätte. Trotz umsichtiger Beachtung von Sicherheitsaspekten bleibt es ein Abenteuer.

Insbesondere eine Winterreise hat ihre besonderen Erfordernisse. Wetterbedingungen, Straßenbedingungen, die verminderte Anzahl an Tageslichtstunden müssen eingeplant werden. Vor allem das Alleine-Reisen benötigt ein besonderes Management. Man ist ja auf sich alleine gestellt und muss sich auf die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten verlassen. Und mein Hund verlässt sich auf mich und somit ist es meine Verantwortung, für ihn mitzudenken und gut für ihn zu sorgen.

Eine solche Reise anzutreten bedeutet die eigene Komfortzone zu verlassen und sich dem Unbekannten zu stellen. Dieses Unbekannte, Fremde, das vor mir liegt, beunruhigt mich, zumal ich nicht einmal die Sprache des Landes verstehe, in das ich reisen will. Auch wenn ich mich auf mein Englisch verlassen kann, so ist nicht gesagt, dass mein Gesprächspartner mit mir kommunizieren kann. In Prag ist es mir tatsächlich öfter passiert, dass insbesondere ältere Leute, die ich etwas fragen wollte, sofort abwehrten: „No English!“.

Meine Strategie besteht zum Einen darin, mir das Fremde möglichst schnell vertraut zu machen. Wo finde ich was? Wie komme ich wo hin? Was bedeutet…? Ich präge mir den Teil des Stadtplans ein, den ich brauche, orientiere mich an den Himmelsrichtungen, merke mir die Umgebung der Tramhaltestelle und so weiter. Außerdem schätze ich ab, wie lange ich für eine Strecke brauche, damit ich nicht im Dunkeln irgendwo herumirren muss, weil ich nicht eingeplant habe, dass die Sonne schon zwischen vier und fünf Uhr untergeht. Mein Sicherheitsgefühl wächst mit der Ortskenntnis.

Zum Anderen verlasse ich mich auf mein Grundvertrauen, das es überall auf der Welt Menschen mit Herz gibt, die mir in der Not weiterhelfen würden. Die menschliche Fähigkeit der Emphatie geht über Sprachbarrieren hinaus. Dies ist eine der wichtigsten und schönsten Erkenntnisse, die ich in meinem Reiserucksack habe.

Herausforderungen meistern

Während meine größte Herausforderung dieses Mal technischer Natur war (doch davon später), sah sich mein Bodyguard Mowgli mit einer ganz neuen Erfahrung konfrontiert: dem Tramfahren. Sicher, er ist früher schon einmal mit der Straßenbahn mitgefahren, aber das ist lange her.

Jetzt stehen wir an der Haltestelle und ich lege ihm einen Maulkorb an, weil ich gehört habe, dass dies vorgeschrieben ist. Dabei entschuldige ich mich und verspreche ihm, dass es nur für die Fahrt ist. Wir steigen in eine proppenvolle Tram ein, wo ich zum Glück noch einen Sitzplatz finde. Mowgli aber findet keinen richtigen Halt und rutscht hin und her. Ich bemühe mich, ihn mit den Beinen zu fixieren und ihm so ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Es kommt kein Laut der Klage. Nachdem wir ausgestiegen sind, hoffe ich, dass er die nächste Fahrt genauso tapfer über sich ergehen lässt. Zu meiner großen Überraschung kann er es beim nächsten Mal kaum erwarten, wieder einsteigen zu dürfen. Einmal legt er sogar seine Schnauze vertrauensvoll auf die Schuhe eines fremden Mannes, woraufhin die ganze mitreisende Umgebung in herzliches Lachen fällt.

Sir Globetrotter ist eben ein reiseerfahrener Hund, der sich im Restaurant zu benehmen weiß, der geduldig vor der Toilette wartet bis seine Chefin wiederkommt, der wie selbstverständlich in das Sightseeing-Boot einsteigt und nicht einmal vor dem spiegelnden, glatten Boden des Aufzugs zurückschreckt. Von kleinen Ausreißern abgesehen – wie zum Beispiel dem allzu enthusiatischen Bellen, wenn ich die Leine für den Spaziergang hole – ist er der perfekte Reisebegleiter auf vier Pfoten.

Es macht nichts, dass unsere Städtereise keine Museumsbesuche im Programm hat. Dafür laufen wir mehr und besichtigen alles, was mich interessiert und wo ein Hund Zugang hat. (Die Goldene Gasse gehörte nicht dazu 🙁 ) Prag ist weitläufig und es gibt viel zu sehen…

So kommen etliche Kilometer zu Fuß und Pfote zusammen. Eine Sightseeing-Tour ist auch für ihn sehr anstrengend. Auf dem Heimweg schleicht er nur noch langsam und man sieht ihm an, dass er sich am liebsten hinlegen möchte, aber seiner Chefin zuliebe gibt er sich immer wieder einen neuen Schub, obwohl längst die Pfötchen qualmen. So viele Eindrücke… Die wird er später auf seinem Hundebett liegend träumend verarbeiten.

Ich kaufe eine riesige vegane Pizza und halte ihm den Karton mit dem wohlriechenden Inhalt unter die Nüstern. Was für den Esel die Möhre ist, ist für Mowgli frische Pizza. Auf einmal läuft er wieder doppelt so schnell, während wir dem Hotel zustreben, um unser Essen zu genießen. Im Restaurant kapiert er schnell, dass er nicht betteln darf und geht unter dem Tisch auf Tauchstation. Jetzt aber darf er, denn er war mutig und fleißig. Ich gebe ihm immer wieder kleine Stückchen vom knusprigen Rand ab. Keine artgerechte Ernährung, weiss ich. Aber er ist bisher auch noch nicht von weggeworfenem Essen, das auf der Strasse herumliegt, krank geworden. Wie oft habe ich schon mit einem scharfen „Pfui!“ das Schlimmste verhindert! Jetzt bekommt er unter kontrollierten Bedingungen sozusagen eine Belohnung. Morgen werde ich ihm wieder das Wort „Hundefutter“ buchstabieren…

Für die Herausforderung, der ich selbst mich gegenüber sah, war problemlösendes Denken gefragt. Man stelle sich vor, man erreicht sein Reiseziel und möchte mal eben die Lieben daheim informieren, dass man gut angekommen ist. Man nimmt das Handy in die Hand, das noch vor zwei Stunden komplett aufgeladen wurde, und stellt fest: tot! Mausetot. Nicht einmal am Ladestecker lässt es sich noch starten. Der Super-GAU! Ich kann niemanden anrufen, denn alle Kontaktdaten befinden sich auf dem Handy. Es gibt sowieso keine öffentlichen Telefone mehr, auch nicht im Hotel. Ich habe keinen Stadtplan und kann auf keine Karten-App zugreifen. Ich kann mich nicht einmal mit meinem Laptop auf Gmail anmelden, da ich das unbekannte Gerät mit dem Handy verifizieren muss. Sämtliche Dienste, für die man eine Zwei-Faktor-Authentifizierung benötigt, fallen ebenfalls aus, kurz gesagt: man ist nur noch ein halber Mensch. Keine Karten, keine Kommunikation, keine Transaktion. Wie konnte es nur soweit kommen?

Es kostet mich mehrere Stunden, das Problem zu lösen. Während das Handy an der Steckdose hängt, richte ich auf meinem kleinen Reiselaptop eine komplett neue Mailadresse ein, um mit dem Ingenieur meines Vertrauens zuhause kommunizieren zu können. Wie durch ein Wunder lässt sich schließlich mein Handy mit einer speziellen Tastenkombination wieder starten. Puh, das ist ja nochmal gut gegangen! Der Schreck aber sitzt tief und fortan wird dieses Gerät wie ein rohes Ei behandelt und genau beobachtet.

Wieder einmal habe ich erfahren, wie wichtig es ist, einen kühlen Kopf zu bewahren und logisch vorzugehen anstatt in Panik zu geraten. Immer schön in der eigenen Mitte bleiben, dann kann man sich in jede Richtung bewegen!

Erweiterung des Horizonts

Wenn man dem Horizont entgegengeht, erweitert sich dieser. Somit erweitert sich das Bewusstsein und die Wände der eigenen kleinen Welt verschwinden. Man bleibt beweglich im Kopf. Manche Probleme schrumpfen plötzlich wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herauslässt, wenn man von ihnen ablässt und sich mit voller Konzentration anderen Dingen zuwendet. Alles, was an Proportion verloren hat, wird wieder an seinen Platz gerückt. Vergreisung ist bestimmt auch eine Form von Erstarrung.

Meinungen und Urteile sind wie wohlbekannte Straßen, in denen wir uns bewegen. Sie geben uns Sicherheit, weil wir uns auskennen. Wenn wir uns auf unbekanntes Terrain wagen und neue Perspektiven kennenlernen, fällt diese Sicherheit weg und wir müssen uns neu orientieren.

Und genau das geschieht, wenn wir in fremde Welten eintauchen. Wie riecht eine Stadt? Wie klingt sie? Wie sind die Menschen? Was spiegelt sich auf ihren Gesichtern? Wie verhalten sie sich? Wie klingt ihre Sprache? Und wenn sich ein Gespräch ergibt: was beschäftigt sie? Wie ist das Licht an dem Ort, an dem ich mich befinde? Wie wirken die Gebäude auf mich?

Man kann 100 Filme über einen Ort gesehen haben, aber erst, wenn man sich dorthin begibt, möglichst vorurteilsfrei, kann man ihn wirklich erleben. Dann kennt man die Gerüche und Klänge, spürt die Wesensart der Menschen. Manches Vorurteil mag sich dabei in Luft auflösen, manches Urteil (auch im negativen Sinn) überraschend bilden.

Reisen ist das Mittel der Wahl zur Völkerverständigung, sogar, wenn man das eigene Land bereist und dabei neue Regionen kennenlernt.

Es ist wie ein gutes Gespräch, bei dem man den Standpunkt des anderen kennenlernt.

Manches Mal ergibt sich aus einer Ortsveränderung auch eine Art Zeitreise. Nicht allein, dass man die Zeugnisse historischer Gegebenheiten aus nächster Nähe erfahren kann, es kommt auch vor, dass aus dem eigenen Leben Erinnerungen an die Oberfläche treten, die man dann betrachten und vielleicht auch neu bewerten kann.

Im Wandel der Zeiten

Während Mowgli und ich am letzten Tag des Jahres auf einer Mauer oben auf dem sächsischen Berg Bieleboh sitzen und in das Tal blicken, das zunehmend in die Dämmerung eintaucht, spüre ich mit aller Deutlichkeit das Versinken der alten Zeit in das Meer der Geschichte. Wir hören dem kräftigen Wind zu, der hier oben bläst. Mowgli hält seine Nase dem Wind entgegen und wittert intensiv. Es genügt uns, hier zu sitzen, während die Menschen um uns herum sich auf die Silvesterparty vorbereiten. Morgen werden wir nach Prag weiterreisen und ein neues Kapitel beginnen…

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