Allgemein

Das Ende der Straße

Ein alter Mann schlurft mit schweren Schritten eine Straße entlang bis er zu einer Bank kommt, auf die er sich erschöpft fallen lässt. Die Straße endet hier.

Von seiner Bank aus kann er auf das weite Meer blicken. Er betrachtet das Farbenspiel des Himmels und der Wellen und erinnert sich. Noch vor wenigen Jahren hätte er dieses grandiose Schauspiel in einem Bild festgehalten. Jetzt aber nimmt ihn seine Erinnerung gefangen.

Denn an diesem Ort war er schon einmal – in den letzten Tagen des Krieges. Diese Stadt war der Zufluchtsort gewesen nach einer langen und gefährlichen Flucht vor der vorrückenden russischen Armee aus Westpreußen. Die Mutter, die Geschwister, die Großeltern und andere Familien waren in einem Troß aufgebrochen, die nötigste Habe hatte man auf ein Handwägelchen gepackt. Es ging zu Fuß und manchmal auch per Eisenbahn nach Westen. Oft gab es nichts zu essen, manchmal mussten die Kinder die Bauern bestehlen. Nicht alle von den Alten überlebten die Strapazen. Er denkt an die Begebenheit, als er zusammen mit seinem Bruder einen Sack Zucker erbeutet hatte und ihnen beinahe der Zug, in dem der Rest der Familie bereits Platz genommen hatte, vor der Nase weggefahren wäre.

Hier nun war das Ende der Flucht gewesen. Er war 12 Jahre alt und hatte die Mitverantwortung für seine Geschwister. Die Familie kam bei lieben Verwandten unter bis der Vater aus dem Krieg zurückkehrte und sie abholte. Hier ging er auch eine Weile zur Schule. Die Sache mit der Schule war schwierig in diesen Tagen. Sicherlich hätte er das Zeug gehabt, einen guten höherwertigen Abschluss zu machen, doch nach der 8. Klasse war Schluss. Er machte eine Lehre und unternahm die ersten Schritte ins Berufsleben in einem sich wieder aufbauenden Deutschland.

Der alte Mann liegt auf seinem Bett in einem kleinen Zimmer eines Altenheims, das jetzt sein Zuhause ist, und erinnert sich an diese Stunde auf der Bank am Ende der Straße. Gerne würde er noch einmal dort hin. Doch das geht jetzt nicht. Gerne würde er auch eigenständig leben und hingehen, wohin er will. Doch das lässt seine brüchige Gesundheit nicht mehr zu. Und so bleibt ihm nur, in seiner Vorstellung zu reisen, und auch das fällt ihm immer schwerer.

Besuch bekommt er kaum. Anfangs, in der ersten Zeit seines jetzigen Aufenthaltes, war es noch recht leicht. Seine Kinder kamen regelmäßig und nahmen ihn manchmal für einige Stunden mit nach Hause, sodass er ein wenig bei seiner Familie sein konnte. Seine Tochter hatte dann gekocht und nach dem Essen sahen sie sich Bilder oder manchmal auch einen Film gemeinsam an.

Das alles geht jetzt nicht mehr. Es ist wegen der schlimmen Seuche, sagte man ihm. Niemand darf das Haus verlassen ohne anschließend in Quarantäne zu müssen. Erst seit kurzem darf er wieder Besuch erhalten – aber nur für eine begrenzte Zeit mit frühzeitiger Voranmeldung. Wenn seine Kinder kommen, sind sie so vermummt, dass er sie kaum erkennt. Er kann nicht in ihrer Mimik lesen. Verstehen kann er sie auch kaum. „Mein Vater ist schwerhörig“, hatte seine Tochter protestiert, als man ihr die obligatorische Gesichtsmaske entgegenhielt. „Darauf können wir keine Rücksicht nehmen!“ hatte man ihr geantwortet.

Ob diese Seuche wirklich so schlimm ist? Der alte Mann fühlt sich einsam. Wie gerne hätte er wenigstens seinen Geburtstag im Kreise seiner Familie verbracht! Einsamkeit ist ein bitteres Brot, denkt er und wünscht sich, dass diese Seuche bald vorbei ist.

Er ist müde und möchte schlafen.

Was wohl hinter dem Meer liegt?

Kommentar verfassen